Stichwort: glauben, meinen, dafürhalten



hörmal, sagte Grit, ich hab wohl eine Art Geisteskrankheit, dass ich es mir nicht in einer der konfektionierten wohlfeilen Ideologien warm und gemütlich machen kann; mit einer (nicht schädlichen) Portion Konsequenz (diesem moralphilosophischen Ladenhüter) ausgestattet, könnte ich weich und geschützt in der Gesellschaft sitzen und mir elitär oder revolutionär vorkommen



Quatsch, sagte Rettenbacher, der gerade was Festes hatte (wie man sagt, er hat jetzt wieder eine feste Freundin) du gehörst sowieso zu uns, und suchte in der Küche nach leeren Bierflaschen



kommt drauf an, sagte Grit, mit welchem Kanon- oder Sektengläubigen ich gerade rede, jeder Gläubige reizt meinen Widerspruch, weil aber auch alle Ideologien, Systeme, Kalküle ihre Seiten und Haken haben, Bekehrtsein ist ja so gesund, so euphorisierend, bewundernswert der Orgasmus des Dogmatikers, ich kann günstigenfalls sagen wovon ich nicht überzeugt bin, was mir unwahrscheinlich vorkommt, was ich kein Bedürfnis zu glauben habe, welche Gedanken mir fremd oder zuwider sind, aber Liebeserklärungen sind mir schon immer schwer gefallen



du gibst vor auf die Konsequenz zu scheissen, sagte Rettenbacher mit seinem Mund, und scheinst dir ein widerspruchsfreies System zu wünschen, vielleicht ist dir wirklich nicht zu helfen

 
Elfriede Gerstl
 
  Elfriede Gerstl: Spielräume  
Elfriede Gerstl
 
 

sei nicht so blöd, sagte Grit in ihrem oberen Ende, von wo die meisten ihrer akustisch wahrnehmbaren Informationen ausgegeben wurden, was ist schon eine Party (ausser einer Wortmenge), ein Spiel, dessen Regeln nicht genau festgelegt sind und die man überdies ändern kann, ich weiss auch nicht wo wir sind, aber wenn du willst kann ich mir einen Namen für den Ort (Ort!) ausdenken, und die Leute, die uns beim Denken zuschauen und deren Kritik du zu fürchten scheinst, sollten sich lieber auch was einfallen lassen anstatt ihre Kopfschuppen zu kratzen und an ihren Zahnlücken zu saugen



 
Elfriede Gerstl
 
  die, sagte Rettenbacher, sind doch Seelenvoyeurln, die sehen wollen wie wir unsere ethischen Blähungen bekämpfen, oder Intimitäten zu belauschen hoffen, die ihre eigenen erotischen Phantasien legitimieren, Beispiele für Gruppendynamik, Charakteranalysen nach einer der gängigen Methoden



Stichwort: Sprache(n), Spiele



manchmal wach ich in der Früh auf und lieg so im Bett herum und hab zu nichts Lust
manchmal wach ich in der Früh auf und lieg so im Bett herum und hab Lust mir ein Spiel auszudenken
und nenne trinken erbrechen, riechen, rotzen, Tee nenne ich heute Urin, Kuchen Scheisse, schwitzen mit Staubzucker bedeckt sein, Genitalien nenne ich vorläufig noch Genitalien
jetzt kann ich den Satz sagen
es ist früher Morgen, sein sonniger Tag, Alfons mein lieber Mann erbricht Urin, rotzt an den Rosen, isst Scheisse und ist bis an die Genitalien ganz mit Staubzucker bedeckt oder, wenn ich Lust habe, kann ich mir heute den Gebrauch der Landes-(Mutti)-sprache versagen
 
 
  Elfriede Gerstl. Spielräume. Linz: edition neue texte, hrsgeg. von Heimrad Bäcker, 1977, S. 31 - 33.  
 
 




Elfriede Gerstl

Elfriede Gerstl, 1932 in Wien geboren, lebte 1942 - 1945 als jüdisches Kind in wechselnden Verstecken, studierte einige Semester Medizin und Psychologie. 1964 - 1968 Aufenthalt in Berlin, lebt in Wien. Seit 1962 Publikationen, Gedichte, Kurzprosa, Aufsätze, ...