Vom Toten Gebirge
Das Massiv des Toten Gebirges in den nördlichen Kalkalpen hat ein Ausmaß von mehr als 50.000 Hektar. Wenn es auf dem plateauartigen Gebirgsstock um die zweitausend Meter zu schneien beginnt, wird es im weiten Umkreis bis ins Alpenvorland hinaus frostig und kalt. Aber vorher kommt meist noch ein Föhn, der in die Ebene hinunterbraust (...). Im Winter fällt hier soviel Schnee, daß der Sommer kaum kräftig genug ist, ihn zu schmelzen. Die letzten Flecken verwandeln sich im August nicht mehr in Wasser, sondern verdampfen. Die trockene Hitze der Felsen teilt sich den darunterliegenden Wäldern mit, deren Fichten in den oberen Regionen zottig wie Bären sind. Ganz oben wächst noch die Zirbelkiefer mit buschigen Zweigen, obwohl ihre Wurzeln kaum noch Erdreich finden. Im Toten Gebirge steigt man steil hinauf, dann aber geht man in riesige und wellige Weiten hinein, viele Stunden und, wenn man will, Tage lang. (...)
Der Norden ist die schroffe Seite des Gebirges. Die Felsen steigen an
wie Zinnen und die Gipfel ragen wie riesige Zacken in den Himmel.
Jahrhundertelang glaubten Menschen, hier und nicht im Dachsteinmassiv liege
der höchste Berg der nördlichen Alpen. Sogar der große Mathematiker und
Astronom Johannes Kepler, der in den Jahren von 1612 bis 1626 das Land
neu vermessen hat, erlag noch dieser optischen Täuschung. Er hielt es
gar nicht für notwendig, das ohnenhin Augenscheinliche noch geometrisch zu
überprüfen.
Wenn der tiefe Schnee alle Schlünde und Abbrüche bedeckt, ist das ganze
Tote Gebirge sanfter und hat schwingende Linien. Aber die Schneewellen verstärken
noch den Eindruck der unermeßlichen Weite mit ihrer Stille, die nur selten
vom heiseren Schrei einer Dohle belebt wird. Aber unter dem Schnee gibt es
gefährliche Dolinen, Felsspalten und Löcher, die hunderte Meter in die
Tiefe reichen. Das Gebirge ist von unterirdischen Bächen durchzogen, die
ihre eigenen Querungen bilden. Wird in einem der kleinen Seen inmitten von
schütteren Lärchen Farbstoff eingeführt, tritt er in Bächen, die aus
Höhlen kommen, zwanzig Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Gebirges
wieder ans Tageslicht.
Teile dieses weitverzweigten unterirdischen Bachsystems wurden in
Jahrtausenden zu Höhlen ausgeschwemmt. Aufschlußreiche Knochenfunde in den
sogenannten Salzöfen zeigen, daß hier schon in der Steinzeit Menschen gewesen
waren, in der Höhle eine Art Jagdstation eingerichtet und dabei Schädel von
Höhlenbären regelrecht bestattet hatten. Ein Schulmeister hat das Geheimnis
entdeckt, von den Fachgelehrten lange als völlig unzünftig verspottet.
Es mußten Wege über das Gebirge geführt haben, die heute längst versunken
sind. Aber Felsritzungen und Steinzeitmenschen diesseits und jenseits des
Toten Gebirges künden von solchen Übergängen. Das heute kahle Gebirge muß
eine üppige Vegetation aufgewiesen haben, und manche Sagen vom Überfluß an
Milch und Butter scheinen in diese Zeiten zurückzuweisen. Einige Almen,
wie saftige Oasen eingesprenkelt in die kahle Gebirgsfläche, könnten
Überreste jener vergangenen Üppigkeit sein. (...)
Weltgeschichte und Weltkultur haben kräftig hereingebrannt in die
Gegend am Fuße des Toten Gebirges. Es handelt sich um eine ³Provinz" mit
steilen Zugängen zur Welt, und die Idylle war zu allen Zeiten höchst
gefährlich und zerbrechlich.
In geradezu spektakulärer Weise trat das Gebiet südlich und westlich
des Toten Gebirges im Zweiten Weltkrieg in den Blickpunkt der Weltgeschichte,
der scheinbare Schlaf wurde durch grelle Blitze gespenstisch erleuchtet. (...)
Das Salzkammergut war Schauplatz der Bildung einer größeren
Widerstandsbewegung, der direkt und indirekt mehrere hundert Menschen angehörten
und die rund 300 Verbindungs- und Anlaufstellen hatte. Den Kern bildeten
entsprungene Häftlinge aus Gefängnissen und Konzentrationslagern mit dem
Spanienkämpfer Sepp Plieseis an der Spitze. Manchmal wurden von der Gestapo
bis zu 600 Häscher aufgeboten, um der Rädelsführer habhaft zu werden.
Es gelang ihnen jedoch nicht, denn die Männer des Widerstandes kannten
sich aus im Toten Gebirge und seinem Umfeld in Berg und Tal.
Gewiegte Jäger spielten hier zusammen in schicksalsträchtiger Weise.
Der Sohn eines Jägers hätte aus dem Urlaub wieder einrücken müssen, kehrte
aber schon einige Stunden später um und ging in die Wälder. Es kam ihm zugute,
daß am selben Tag ein schwerer Bombenangriff auf den Eisenbahnknotenpunkt
Attnang-Puchheim niederging und er daher als vermißt gemeldet wurde.
Mittelsm&aukml;nner und Widerstandsbewegung traten an den verstöärten Vater heran
und teilten ihm mit, daß der Sohn keineswegs bei dem Bombenangriff ums Leben
gekommen sei, sondern sich in der Nähe befinde. Aber der Vater müsse helfen,
für die Flüchtlinge ein dauerhaftes Quartier zu finden in dem weit ausgedehnten
Revier, das er zu betreuen hatte.
Auf diese Weise entstand ein fester Stützpunkt hoch über dem Tal auf
dem Hang gegen den Schönberg zu, in einer Felsmulde, die zugedeckt werden
konnte und die so günstig lag, daß man den Igel erst erkannte, wenn man
unmittelbar davorstand. Als Markenzeichen für die Bewohner selbst galt
eine uralte Lärche in der Nähe, ein sogenannter Hahnenbaum, weil sich hier
in den starken Ästen der Lärche im Frühling der Auerhahn niederläßt,
bevor er seine Balz-Kunststücke beginnt. In diesem Igel liefen die Verbindungen
aus dem Tal zusammen. Einige Mitglieder der Gruppe, erfahrene Wilderer,
sorgten für die Hauptnahrung. Der Jäger, der froh war, seinen Sohn halbwegs
in Sicherheit zu wissen, teilte ihnen Striche für die Jagd zu, damit sie
nicht in fremde Reviere ausweichen mußten und dort auffallen könnten. (...)
Die Bewegung hat viele tapfere Frauen und Männer hervorgebracht.
In Grundlsee wurde 1944 der Theologe Prof.Dr.Dr.Johannes Uhde verhaftet,
weil er von der Kanzel herunter ³defaitistisch" predigte und für den Frieden
beten ließ. Er war von seinen Kirchenoberen in das abgeschiedene Tal verbannt
worden, weil er als glühender und aktiver Pazifist der opportunistischen
Kirchenpolitik im Wege war. (...)
Da war der Salzbergangestellte Johann Moser, der als weicher Mensch
geschildert wird. Er war immer bestrebt, allen zu helfen, davon ausgehend,
daß er selbst, wenn es darauf ankomme, auch der Hilfe bedürfe. So hat er
Verbindungsarbeit geleistet und hat Kriegsgefangenen geholfen. Er wurde
verhaftet und nach Linz gebracht. (...) aber er hat nichts gesagt und
niemand verraten. Er wurde bei einem Bombenangriff auf das Gefängnis in
Linz erschlagen.
Und da war Karl Feldhammer, Tischler und Holzknecht, bekannt und
beliebt bei den Leuten. Auch er wurde verhaftet, konnte aber auf dem
Transport zum Bahnhof entspringen. Er hielt sich längere Zeit im Igel
der Widerstandsbewegung auf, und er hätte überleben können.
Aber seine Frau Marianne war hochschwanger, und er dachte ununterbrochen
an sie und trug wie an einer Schuld, daß er sie in den schweren Wochen allein
lassen mußte. Seine Kameraden berichteten später, daß er oft tagelang ganz
geistesabwesend war, nichts gesprochen und auf Fragen kaum Antwort gegeben
habe. Man habe ihm angesehen, daß er die Ungewißheit über die Schutzlosigkeit
seines Weibes nicht lange werde ertragen können. Sie redeten ihm zu, nur ja
keine Dummheit zu machen, denn selbstverständlich würde sein Haus beobachtet
werden.
Er aber verschwand hin und wieder, und sie wußten, daß er nach Wegen
suchte, mit seiner Frau zusammenzukommen.
Schließlich ging er zu ihr ins Haus. Es lag viel Schnee. Im Haus war
ein kleiner Verschlag eingerichtet, in dem er sich schnell hätte verbergen
wollen, wenn jemand nach ihm suchen sollte.
Sie kamen in der Nacht zum 26. Jänner 1945 und umstellten das Haus.
Frau Marianne wollte ihn noch warnen mit dem Ruf ³jetzt sind sie da!",
während draußen schon die Gewehrkolben an die Türe krachten.
Karl Feldhammer sprang aus dem Fenster, sie schossen ihm mit
Maschinenpistolen nach und trafen ihn tödlich. Es war eine mondhelle
Nacht, so daß sie gut zielen konnten. Der Mond warf scharfe Kanten auf
die Schneewellen der Vorberge zum Toten Gebirge.
Im März 1945 brachte Marianne Feldhammer einen Sohn zur Welt.
(Dank an Franz Kain für die Zurverfügungstellung dieses Textes) |