DE-/REKONSTRUKTIONEN III
Ergänzende Vereinigung von Bildelementen zu Sprachzeichen
(in der Art von Schriftzeichen):
Beispiel: "Phoinix, mit unzerreibbarer Stimme" (Ilias, XVII, 555)
1. "Unzerreibbar" ist zunächst ein sehr unanschauliches
Element, da es sich einerseits um ein adjektiviertes Verb handelt, also einen
Vorgang als Eigenschaft formuliert, und zweitens um ein Verb in einer
intransitiven Form, also als negative Aussage.
Sehen wir von diesen grammatischen Festlegungen ab, handelt es sich um das
Verb "zer-reiben". Von "zerreiben" haben wir eine ziemlich
präzise visuelle Vorstellung. Es ist eine Bewegung entlang einer Oberfläche
("reiben", "schleifen"), die eine zerstörende Wirkung
auf das Material hat. Diese Wirkung liegt zwischen deformierend ("zerquetschen")
und pulverisierend ("zu Staub machen").
2. Dem Wort "Stimme" angeschlossen entstehen zuerst akkustische
Assoziationen, die vom Geräusch von "zerreiben" abgeleitet werden
können, wie das Kreischen von Kreide auf einer Tafel, etwa: schrill, heiser,
durchdringend. An anderer Stelle in der Ilias: "schrie
gewaltig und schrecklich, Schrill, und schleuderte große Kraft einem
jeden Achäer In das Herz." (Ilias, XI, 10 - 12)
Von einer solchen Stimme ist hier tatsächlich die Rede. Das beweist
auch der Kontext der Zitate, denn in beiden Fällen ist von einer Göttin
die Rede, die sich ins Kampfgeschehen einmischt. (Hinter dem vermeintlichen "Phoinix"
verbirgt sich Athene.)
3. Die Negation bedeutet daher einen weiteren zusätzlichen Aspekt, nämlich
schlicht den der Unzerstörbarkeit, und zwar sowohl in der Form als auch in
der Substanz, also "göttlich".
Grundsätzlich stellt jedes der beiden Worte einen Begriff dar, dessen
Bedeutung im Sprachschatz definiert ist, und sich im Kontext des Satzes mit der
jeweils anderen definierten Bedeutung zu einer Aussage verbindet. Das gilt
generell für jede sprachliche Äußerung.
Darüberhinaus aber sind die einzelnen Worte im größeren
Kon-Text der Ilias mit anderen, gleichen oder ähnlichen Worten verknüpft,
die an anderen Stellen in ähnlichen Situationen, mit ähnlichen
Wortpartnern und ähnlichen Bedeutungen verbunden sind. Dadurch werden diese
Worte und Wortpaare "semantisch ratifiziert".
In dem Beispiel soll demonstriert werden, wie sich in einer einfachen
Verbindung von zwei Worten die Relation aller sinnlichen Erfahrungen, die, über
die Bedeutung der einzelnen Worte und ihre grammatische Form im Satz (die eine
noch spezifischere Bedeutung festlegt) hinaus, mimetisch an jedes dieser Worte
geknüpft sind, darstellt. Solche Wortverbindungen erhalten dadurch den
Charakter eines bildhaften Schriftzeichens.
Auffällig an der Ilias ist nun die Häufigkeit der
Adjektiv/Substantiv-Verbindungen, von denen außerdem viele permanent
gleichlautend vorkommen, z. B.: der strahlende Hektor, Hektor mit funkelndem
Helme, der schnellfüssige Achilleus, die gefiederten Worte, die wuchtigen
Worte, die weißellbogige Hera, der schleppende Peplos, etc.
Die Philologie sieht in diesen, sich wiederholenden Paaren formelhaftes
Material, das aus der oralen Tradition der Dichtung stammt und älter als
die Ilias selbst ist. Dies könnte ein zusätzlicher Hinweis darauf
sein, daß diese Verbindungen bereits (sinnlichen) Schrift-Zeichencharakter
hatten, bevor sie in die Ilias übernommen wurden.
[Anmerkung: Wenn hier von Wortverbindungen oder Paaren die Rede ist, so
bestehen diese Verbindungen manchmal auch aus mehr als zwei Worten. Es scheint
sich dann aber um Paare aus Unterpaaren zu handeln. Z.B.: "die stürmende
Ägis, schrecklich und ringsum zottig, erstrahlend" kann aus den Teilen
"stürmend / zottig", "schrecklich / erstrahlend"
bestehen. Aber, indem man sie mit einem anderen Sprachzeichen zusammenliest,
auch aus "stürmend / schrecklich" und "zottig / erstrahlend".]
Wie in dem vorhergehenden Beispiel demonstriert, kann die Bedeutung
einzelner "Sprach-Zeichen" aus ähnlichen Situationen näher
beleuchtet werden:
1. Beispiel:
"zottiges Herz" (Ilias, II, 851)
"die stürmende Ägis, Schrecklich und ringsum zottig, erstrahlend"
(Ilias, XV, 308 - 309 )
"... im Herzen
Wog er hin und her in der haarigen Brust den Gedanken" (Ilias, I, 188-189)
"... Dessen Sinne sind nicht gehörig, noch ist das Denken
Schmiegsam in seiner Brust" (Ilias, XXIV, 40 - 41)
2. Beispiel:
"strahlenäugig Athene" (Ilias, II, 279)
"die stürmende Ägis, Schrecklich und ringsum zottig, erstrahlend"
(Ilias, XV, 308 - 309)
"so wie aus Wolken erscheint der verderbliche Hundsstern,
Hell erstrahlend, und dann wieder taucht in die schattenden Wolken
(Ilias, XI, 61 - 63)
3. Beispiel:
"Trojas Frauen mit schleppendem Peplos" (Ilias, VII, 297)
"schleppfüßigen Rindern und weißlich schimmernden Schafen."
(Ilias, VI, 424 )
"Ließ auf des Vaters Schwelle den Peplos, den weichen und bunten,
Sinken, welchen sie selbst mit den Händen gemacht und gefertigt, Tauchte
ins Panzerhemd des Zeus" (Ilias, VIII, 385 - 387)
Beispiele für häufige Adjektiv/Substantiv-Verbindungen aus der
Ilias:
"die männertötenden Hände" (Ilias, XVIII, 317)
"Thetis, der silberfüßigen" (Ilias, I, 538 )
"Rossezähmender Troer und erzgeschirmter Achäer" (Ilias, III, 251)
"dem erzgepanzerten Hektor" (Ilias, V, 699)
"Apollon mit silbernem Bogen" (Ilias, VII, 58)
"rinderäugige Hera" (Ilias, VIII, 471)
"roßhaarumflatterten Helmen" (Ilias, XII, 339)
"unnahbare Hände" (Ilias , XVII, 638)
In der gesamten Ilias addieren und multiplizieren sich diese
Sprach-Zeichen und werden zu einem dichten Teppich sinnlicher Wahrnehmungen
verwoben.
Diese Formulierung spielt nicht unabsichtlich auf ein gängiges
Bildmotiv aus der griechischen Mythologie, dem "Weben von Bild-Geschichten" an.
Das Beispiel der Penelope aus der Odyssee ist bekannt. Aber auch in der Ilias
findet sich eine Bilderweberin:
"Die fand sie (Anm.: Helena) in der Halle; sie webte da einen großen
Doppelten Purpurmantel und wirkte hinein viele Kämpfe
Rossezähmender Troer und erzgeschirmter Achäer" (Ilias, III, 125 - 127)
In dem Bild des doppelten Purpurmantels identifiziere ich die Ilias selbst:
aus dem roten Faden ist nicht nur eine lineare Erzählung
entstanden. Doppelt ist der Mantel gewirkt, in Sprache und Bild schmiegt
sich der Körper ein.
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