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  ILIAS
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Ergänzendes Material:

Zu diesen gesammelten Bildern vom Körper des Kriegers aus der Ilias steht als Ergänzung und als Vergleich noch Text/Bildmaterial aus unterschiedlichen Theoriebereichen zur Verfügung. Im folgenden sei eine Auswahl präsentiert.

Eine anschauliche Beschreibung der Körperkonzeption des mittelalterlichen Kriegers gibt Walter Seitter in seinen Vorlesungen über "das politische Wissen im Nibelungenlied" aus der Reihe "Zur Geschichte der Einbildung: Siegfried, Faust usw.":
"Resümieren wir für den Augenblick Siegfrieds besonderes Körpersystem: über seine gewöhnliche Haut ist eine zweite gezogen, die auch im qualitativen Sinn den Titel Überhaut verdient, da sie vollkommen schließt. Sie ist undurchdringlich, ergo auch undurchdrungen, das heißt ungelocht. Ein vollkommener Panzer, der im Unterschied zu den gewöhnlichen Rüstungen, Textilien, Mauern nicht aus diskreten Stücken zusammengesetzt ist, sondern gegossen, kontinuierlich, "analog". Nun weiß ich nicht, wieso Hagen einst wissen wird, daß da doch wo ein Loch ist.(1) ...
Zuerst hat er davon nichts gesagt. Später hat er dann immerhin gewußt, wer es ganz genau wissen mußte: Kriemhild als Ehefrau, als Liebende. Von daher bekommt dieses Loch die Qualität, die es gemäß seiner Konstruktion (als Konzentration aller Löcher) ohnehin haben muß: es ist auch Geschlecht, Geschlechtsloch. (...)
Nun, was Siegfried betrifft, so hat sein verschobenes Geschlecht bestimmt eine Lochform, das heißt ziemlich genau den Bau, den man in der abendländischen Einbildung dem weiblichen Geschlecht zuweist. So ist Siegfried - man weiß nicht genau, inwieweit ihm selber bekannt oder bewußt - mit seiner Zweithaut und seinem zusätzlichen oder einzigen Loch in eine Art anderes Geschlecht hinübergerutscht. Es gibt Interpreten, die bei Siegfried so etwas wie Androgynität, ja Weiblichkeit vermuten. ...
Ansonsten agiert er mit seiner Körpererscheinung, die folgendermaßen zur Erscheinung kommt: große Schönheit, ja Lieblichkeit, ungewöhnliche Stärke, Gerücht von Unverletzbarkeit. ...
Hagen tritt also durch Kriemhild neben Kriemhild in die Rolle des "einzigen Kenners", in die Rolle des zweiten einzigen Erkennenden, Liebenden. Kriemhild koproduziert Hagen als den zweiten, eigentlich den einzigen potenten Liebhaber Siegfrieds. Allerdings wird er sein sonderbares Geschlecht nicht mit der Hand behüten, sondern wahrhaft männlich mit dem Speer durchdringen. Hagen penetriert, allerdings woanders, den Siegfried, ..."
"Sechs Strophen allein für die Beschreibung von Siegfrieds Ausstattung: Speer, Schwert, Horn, Rock, Hut, Köcher. Was ein Köcher ist, ist bekannt: am Körper ein kleinerer Zweitkörper mit der ganzen Munition eines Bogenschützen: dieser Zweit- oder Nebenkörper ist ganz mit Haut überzogen. Er ist also das, was, wie wir wissen, Siegfrieds Hauptkörper auch ist. Und zwar ist er mit Pantherhaut überzogen: des lieblichen Duftes wegen: also Parfümierung, um nicht zu sagen Sexualstimulierung. Und Siegfried selber: sein Jagdgewand ist ganz aus Otternhaut. Er ist also selber ebenfalls mit einer Haut überzogen: von einem zwischen Wasser und Land lebenden Tier. (...) Siegfrieds Jagdgewand (...) ist über und über mit verschiedenem Pelzwerk besetzt."(2)
Das Unverwundbar-Verwundbare, das Erotische, Transsexuelle und Animalische im Körper und am Körper des Kriegers ist nicht nur im Nibelungenlied ein komplexes Bildmotiv.
Wie Gunter Gebauer und Gerd Hortleder in etlichen Beiträgen in ihrem Buch "Sport - Eros - Tod" für den Sportler, der ja in unserer Kultur sehr oft, und besonders in den Augen der Fans den Krieger ersetzt, belegen, besteht vor allem in der direkten körperlichen Erfahrung zwischen Nähe des Todes und exzessivem Lebensgefühls ein enger Zusammenhang. Sie beziehen sich dabei unter anderen auf George Bataille:
"Das Leben ist seinem Wesen nach ein Exzeß, es ist die Verschwendung von Leben. (...) Im Äußersten sind wir entschlossen, zu bejahen, was unser Leben in Gefahr bringt. (...) wenn uns das Glück hilft, kann uns das Objekt, nach dem wir am glühendsten verlangen, am ehesten zu unbesonnener Verausgabung verführen und uns zugrunde richten."(3)
In diesem Kontext steht bei Bataille in erster Linie die Erotik, die, von der Gesellschaft tabuisiert, jenseits der Schwelle zum Animalischen, aber auch zum "Heiligen" liegt:
"Die Erotik ist tatsächlich insofern verdammungswürdig, als Mensch zu sein bedeutet, die Grenzen zu beachten, ohne die wir Tiere wären. Aber inzwischen bedeutet "die Grenzen hinter sich lassen" in keiner Weise mehr eine Rückkehr zur animalischen Sinnlichkeit, dazu sind wir nicht mehr fähig: es bedeutet, über Mensch und Tier hinauszugehen, in das Reich des Verbotenen einzudringen, und das Verbotene ist, wie wir wissen, das Heilige."(4)
Kulturanthropologisch steht der Krieger in den archaischen Kulturen nach Hans Peter Duerr jenseits dieser ambivalenten Grenzen.
Und Duerr sieht diesen besonderen Status auch in der äußeren Erscheinung des Kriegers "verkörpert":
"Es hat den Anschein, daß zu allen Zeiten und in den verschiedensten Kulturen lange und insbesondere aufgelöste, wirre und wehende Haare als Zeichen dafür galten, daß der oder die Betreffende sich, wie die Soziologen sagen, der sozialen Kontrolle entzog oder daß diese Menschen zumindest dem Druck der Konventionen in geringerem Maße ausgeliefert waren."(5)
"Erst, wenn die Jünglinge der Chatten einen Feind erschlagen hatten, war es ihnen erlaubt, das wallende Haar abzuschneiden. (...) Vorher waren sie dem Totengott Odin geweiht und standen "außerhalb", ganz im Gegensatz zum modernen kurzgeschorenen Soldaten, der in noch stärkerem Maße "innerhalb" der Ordnung steht als der normale Bürger. Auch die Masai ließen ihr Haar frei wachsen, solange sie Krieger waren.(6)(7)
"Wer außerhalb des Rechts, der Kultur stand, war in archaischen Zeiten für die gewöhnlichen Menschen "gestorben", (...) Ähnliches galt indessen möglicherweise auch für den archaischen Krieger. (...) diese wilden jungen Männer (Anm.: die Berserkir), die rohes Fleisch aßen und Blut soffen, (...) , die mitunter ebenfalls in Raubtierfelle gekleidet waren ..."(8)
Das "Draußen-Sein" wird in der Ilias aber nicht nur an äußeren Zeichen, symbolischen Merkmalen, sondern im "Außer-Sich-Sein", im Augenblick der Ekstase des Kriegers aktuell sichtbar gemacht:

"und es trat Schaum ihm auf den Mund, und die Augen
Leuchteten furchtbar unter den finsteren Brauen; der Helm ward
An den Schläfen des kämpfenden Hektor furchtbar geschüttelt"
(Ilias, XV, 607 - 609 )

Im sozial-anthropologischen Kontext bei Mary Douglas in "Ritual, Tabu und Körpersymbolik" wird über den britischen Premierminister Lloyd George berichtet:
"Und es ist interessant, daß dieser langhaarige Premierminister nach dem Urteil zweier Zeitgenossen eindeutig in die Klasse der peripheren Propheten einzureihen ist. Nach Taylor ist er nur infolge der Kriegslage im Jahre 1916 an die Macht gekommen und hat sich nur wegen der aufeinanderfolgenden Nachkriegskrisen bis 1922 an der Macht halten können." Mary Douglas sieht auch in seinem innerparteilichen Aufstieg ein "verzweifeltes Abdanken der Vernunft vor irregulären und marginalen Kräften.( ... ) Ebenso ist allgemein bekannt, daß sein Privatleben nicht gerade mustergültig war - daß "der moraltragende Hauptkult" ganz und gar nicht seine Sache war. Wenn er eine Rede hielt zitterte und schwitzte er wie jemand, über den der Geist gekommen ist. Bei Keynes, der ihn 1919 auf der Versailler Konferenz beobachtet hat, heißt es: "Wie könnte ich dem Leser, dem er unbekannt ist, eine zutreffende Vorstellung von dieser für unsere Zeit so ungewöhnlichen Gestalt vermitteln, diesem Magier, diesem bocksfüßigen Barden, diesem halbmenschlichen Besucher aus der Zeit der keltischen Hexenzirkel und verzauberten Wälder? Man spürt in seiner Gegenwart die fundamentale Ziellosigkeit, das verinnerlichte Verantwortungsbewußtsein, die Existenz außerhalb oder neben unserem angelsächsischen Gut und Böse, verbunden mit Verschlagenheit, Erbarmungslosigkeit und Machtliebe - kurz, all das, was den hellen Zauberergestalten der nordeuropäischen Folklore ihre Faszination und ihren Schrecken verleiht."(9)

Auch in diesem Bericht verbinden sich lange Haare, schamanistisch anmutende Fähigkeit zur Ekstase und der (subjektive) Eindruck animalischer Grausamkeit zu einer Gestalt, der es offenbar noch die zivilisierte britische Gesellschaft von 1916 am ehesten zutraute, mit der damaligen Kriegs-und Krisensituation fertig zu werden. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, daß auch unsere Kultur sich eine Erinnerung an das Bild des Kriegers bewahrt hat, das sich entscheidend von dem des Soldaten (s. Duerr) unterscheidet, und das im gegebenen Fall des richtigen Kontextes wiedererkannt werden kann. Selbstverständlich handelt es sich dabei um ein irrationales und "unbewußtes" Motiv.
Zu den langen Haaren und den Fellen tritt in der Ilias noch - vor allem und, als besonders ins Auge stechendes Merkmal, immer wieder betont: das Metall, jene Schicht des Kriegers, die (bedingt) unverwundbar machte.
Als glänzende Rüstung hat sie auch den Parzival Wolfram von Eschenbachs dazu gebracht, im ersten Ritter, der ihm begegnete, eine göttliche Erscheinung zu sehen. Das "Strahlen" der Waffen, gleichzeitig als ein Strahlen der Krieger gesehen, wird wiederholt mit Sonne, Mond und dem (unglückverheißenden) Siriusstern verglichen. Ausdrücklich hervorgehoben wird das Schrecklich-Schöne daran. In dieser Ausrüstung kann der Krieger strahlen, funkeln und leuchten, klirren und dröhnen - sterbend noch rasseln.
Sowohl der Glanz, als auch die Klang-und Geräuscheffekte des Metalls, sowie sein materieller Wert in den frühen Kulturen, prädestinierten es für eine Verwendung als Fetisch im Kontext des Schamanismus. So war es nach Mircea Eliade Bestandteil der Schamanentracht, heiliges Instrument (etwa in den ostasiatischen Gongs) und vieles andere mehr.
Alle diese Bilder und Eindrücke vom Krieger der Ilias dokumentieren eine körper-und aktionsbezogene ästhetische Konzeption. Sie zeigen in ihrer Widersprüchlichkeit darüberhinaus ein sensibles und differenziertes Verhältnis zu Mythos und Heroismus. Jan Assmann bringt diese literarische Qualität in unmittelbaren Zusammenhang mit ihren oralen Wurzeln: "Sie [Anmerkung: die griechische Literatur] steht der Mündlichkeit in anderer Weise offen, drängt sie nicht ab in eine Subkultur, sondern nimmt ihre Formen auf und bringt sie zu neuer, gesteigerter Entfaltung."(10)
Und weiter:
"Die älteste griechische Literatur scheint darin ziemlich einzigartig dazustehen, da sie eine mündliche Überlieferung getreulich kodifiziert hat. Das entspricht aber der griechischen Kultur überhaupt, die die magischen, "schamanistischen", orgiastischen und anderweitig irrationalen Wurzeln ihrer Kultur beim Übergang in die Literalität nicht abgedrängt hat in das Schattendasein einer auf Distanz gehaltenen Subkultur (....), sondern es verstanden hat, die darin Gestalt gewordenen Bedeutsamkeiten, ästhetischen Schönheiten und anthropologischen Wahrheiten in die rationalen Formen des künstlerischen und wissenschaftlichen Diskurses zu überführen."(11)
Ähnliche Funktion hat, nach Werner Hoffmann, Aby Warburg in Zusammenhang mit der Pathosformel der bildenden Kunst zugeschrieben: "Die soziale Erinnerung soll durch Aufarbeitung unabgegoltener Bedürfnisse der menschlichen Kreatur, durch "Aussprechen sprachlos gewordener Leidenschaften" daran mitwirken, daß die Vernunft in Bewegung und damit handlungsfähig bleibe."(12)
Die künstlerische Umsetzung bietet sich als "Organ der Vernunft" an, indem sie zwischen "Antrieb" und "Handlung" einen "Denkraum der Besonnenheit" installiert.




(1) Seitter spielt hier auf die Haut aus Drachenblut an, die Siegfried unverwundbar macht. Eine ähnliche, unverwundbarmachende "Zusatzhaut" mit einem Loch besitzen auch (zumindest) zwei Heroen der Ilias, nämlich Aias und Achill. Bei dem einen befindet sich das Loch in der Achsel, bei dem anderen an der Ferse, und beide sterben, wie Siegfried, an diesen Löchern: der eine durch eine Art Achsel-Harakiri, der andere durch einen von Apoll gelenkten Pfeil.

(2) (W. Seitter, 1987, S. 111 u. S. 118)

(3) (G. Bataille, zitiert nach G. Gebauer, 1986, S. 277)

(4) (G. Bataille, 1979, S. 96)

(5) (H. P. Duerr, 1984, S. 100, alle Hervorhebungen von mir )

(6) Hier sei angemerkt, was die Ilias berichtet, als Achill, um seinen Freund Patroklos trauernd, sein langes Haar abschneidet: "Schor sich abseits vom Scheiterhaufen die Mähne, die blonde, / Die dem Spercheios-Strom hatte wachsen er lassen, die volle; / Kummervoll sagte er dann, übers Meer, das purpurne, blickend: / "O Spercheios, mein Vater Peleus gelobte umsonst dir, / Wenn ich nach Hause kehre zum lieben Lande der Väter, / Dir mein geschorenes Haar und ein Hundertopfer zu bringen,..." " Ilias, XXIII, 141 - 146.
Bemerkenswert erscheint darüberhinaus, daß Achill sein Haar nicht gleich schneidet, als man ihm den toten Patroklos bringt, sondern erst, nachdem er ihn durch Tötung des Hektor gerächt hat.

(7)" (H. P. Duerr, 1984, S. 405, alle Hervorhebungen von mir)

(8) (ebenda, S. 103, alle Hervorhebungen von mir)

(9) (M. Douglas, 1974, S. 131, Hervorhebungen von mir)

(10) (J. Assmann, 1992, S. 267)

(11) (ebenda)

(12) (W. Hofmann, 1980, S. 157)

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