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  ILIAS
    Folge mir, wie ich der Rede Ziel in die Sinne dir lege

4.4.Der erweiterte, "komplementär verdoppelte" Körper als selbstreferentielles Zeichen.

Diese "Paarung", wie Eisenstein sie nennt, ist nun nicht nur eine Hilfskonstruktion der Bilderschrift, um Unanschauliches anschaulich zu machen. Nach Wilhelm von Humboldt ist sie als Dualis(1) die Grundstruktur aller Sprachen. Humboldt stützte sich bei seiner These auf Sprachmaterial, das sich auf paarweise existierende Körperteile bezieht. Harald Weinrich weist in seinem Aufsatz über Sprache, Leib und Gedächtnis in diesem Zusammenhang noch ausdrücklich darauf hin, daß "die meisten paarigen Körperteile, insbesondere die sichtbaren unter ihnen Kommunikationsorgane sind.":
"Aber das wichtigste Paar unter ihnen ist doch die kommunikative Dyade selber, die in dieser Hinsicht das Paar der Paare genannt werden kann. In ihr haben wir den leiblichen Grund für alles, was in der Welt "zwischen" etwas anderem ist."(2)
Diese Situation bringt uns zurück zur Mimesis und zur "mimetischen Paarung":
"In der Mimesis liegt eine Komplementarität der Perspektiven: Man sieht den Anderen als gleich an und nimmt sich vom Anderen als gleich gesehen an. Komplementäres Sehen stellt eine Übereinstimmung zwischen Menschen her. Körperliche Vorformen der Komplementarität bestehen in einem Anschmiegen an einen anderen; dieses ist ein sinnlicher, körperlicher Akt, aber er ist bereits von Ordnung durchzogen; der Andere wird an die Welt desjenigen angeglichen, der sich ihm anschmiegt. Diese Metapher drückt auch das in der Mimesis enthaltene Affektive aus."(3)
Diese "ergänzende Vereinigung" ist das Grundmuster mimetischer Wahrnehmung. Wahrnehmend vereinigt sich der Mensch in dieser Weise mit der Welt:
"Mimesis widersetzt sich der harten Subjekt-Objekt-Spaltung und der Eindeutigkeit des Unterschieds zwischen Sein und Sollen. Zwar enthält sie rationale Elemente, doch diese entziehen sich zweckrationalen Zugriffen und Annäherungen an die Welt. In mimetischen Prozessen gleicht sich der Mensch der Welt an. Mimesis ermöglicht es dem Menschen, aus sich herauszutreten, die Außenwelt in die Innenwelt hineinzuholen und die Innenwelt auszudrücken. Sie stellt eine sonst nicht erreichbare Nähe zu den Objekten her und ist daher auch eine notwendige Bedingung von Verstehen."(4)
Das Heraustreten aus sich selbst im mimetischen Prozeß führt wiederum zu jener "Außenperspektive" die zwei miteinander verquickte Bildzeichen nicht als Umweg zu einem Begriff entziffert, sondern sie als "fließende Zweiheit" wahrnimmt, die sich nicht an Entfernungen, sondern an Nähen orientiert, und deren Erkenntnisprozeß nicht durch Unterscheidungen sondern durch Ähnlichkeiten geleitet wird.
Hans Peter Duerr beschreibt sie in noch gesteigerter Form - wie sie möglicherweise auch die kriegerische oder poetische Ekstase hervorbringt:
"In dem Maße also, in welchem unsere Alltagsperson ihre mehr oder weniger festen Grenzen aufgibt, erweitert sich dasjenige, was wir zu unserer Person rechnen, (...). Die Grenzen unserer Person schließen nunmehr Dinge mit ein, die wir zuvor zur "Außenwelt" gezählt haben. (...) Unsere Seele löst sich nicht vom Körper, doch die Grenzen unserer Person decken sich nicht länger mit jenen Grenzen unseres Körpers, die wir auf einer Photographie sehen mögen."(5)
Weshalb die Fotografie unserer Wahrnehmung auch nicht so direkt zugänglich ist, wie es aufgrund der "Gedankenschnelle" mit der wir ihre Abbildungen entziffern (dekodieren), auch für uns selbst den Anschein haben mag.
Durch die - im Verhältnis zur Fotografie - verschobenen Grenzen in der mimetischen Wahrnehmung, verändern sich auch die Proportionen der Wahrnehmungsgegenstände, und es kommt zur "disproportionalen Vision". In dieser Vision enthalten ist, gewissermaßen als komplementärer Anteil, die "ekstatischen Selbstwahrnehmung" die laut Aleida Assmann durch "wilde Semiose" hervorgerufen wird. Sie ermöglicht - in den Worten Pierre Klossowskys - eine "Wiederaneignung des Stoffes (also der abge-bild-eten Wahrnehmungen selbst) auf vollkommen manische Weise":
"Im übrigen muß ich noch erwähnen, daß ich schon vor langer Zeit von gedanklichen oder plastischen Konstruktionen, die unmittelbar etwas Pathologisches erkennen ließen, angezogen wurde, und dies in einem keineswegs "desinteressierten" Sinn, der mich vielleicht zu medizinischen Studien veranlaßt hätte, sondern weil ich mich in die andere Seite hineinversetzte (...), frage ich mich durch welchen Winkelzug diese Konstruktionen in bestimmten Fällen über die Tyrannei des gesunden Menschenverstandes hatten triumphieren können, der doch ihr Konstrukteur durch ein "gewöhnliches" Milieu unterworfen war."(6)
Die Wiederaneignung, die Entzifferung des Textes der Ilias durch Imagination, verfährt nach der Methode des "Scanning" bei Flusser: "Während der über die Bildfläche schweifende Blick ein Element nach dem anderen erfaßt, stellt er zeitliche Beziehungen zwischen ihnen her. Er kann zu einem schon gesehenen Bildelement zurückkehren, und aus " vorher" wird "nachher". Die durch das Scanning rekonstruierte Zeit ist die der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Zugleich stellt der Blick aber auch bedeutungsvolle Beziehungen zwischen den Bildelementen her. Er kann zu einem spezifischen Bildelement immer wieder zurückkehren und es so zu einem Träger der Bildbedeutung erheben. Dann entstehen Bedeutungskomplexe, in denen das eine Element dem anderen Bedeutung verleiht und von diesem seine eigene Bedeutung gewinnt: Der durch das Scanning rekonstruierte Raum ist der Raum der wechselseitigen Bedeutung."(7)
Die aus den "Elementen" entstehenden "Bedeutungskomplexe" stellen die "Schriftzeichen des Körpers" dar, den Rapport der Ilias: Körper an Körper.
"Die Bedeutung des Bildes, wie sie sich im Zuge des Scanning erschließt, stellt demnach eine Synthese zweier lntentionen dar: jener, die sich im Bild manifestiert, und jener des Betrachters."(8)




(1) Der Dualis ist, neben Singular und Plural, eine eigene sprachliche Form für zwei Dinge oder Wesen.

(2) (H. Weinrich, 1988, S.85)

(3) (Gebauer/Wulf, 1992, S. 14)

(4) (ebenda, S. 11)

(5) (H. P. Duerr, 1984, S. 143)

(6) (Pierre Klossowski, 1979, S. 8 und S. 9)

(7) s. S. 4, "Das Bild" von Vilém Flusser.

(8) ebenda.

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