ZWISCHEN MONUMENT UND DOKUMENT

Es gibt keinen archaeologischen Nullpunkt der Historie, nie je. Da hilft kein Exerzitium in der Leere antiker Graeber, und keine Kontemplation des Archivs. Ephesos ist niemals unbesetztes Territorium, "Terra nullius" gewesen; Archaeologie hei§t immer auch conquering, mapping, Positivierung von Abwesenheit, "Concepts of Order in No Man's Land" (Cornelia Vismann).

"100 Jahre Ausgrabungen in Ephesos" (September 1995): Vor etwa einhundert Jahren aber schrieb die Archaeologie bereits eben solch ein Jahrhundert spektakulaerer Entdeckungen; im Vorwort zur englischen Ausgabe von A Century of Archaeological Discoveries des Stra§burger Archaeologen Adolf Michaelis erinnert sein britischer Kollege P. Gardner daran, da§ seit dem Beginn der deutschen Grabungen im antiken Olympia archaeologische Funde nicht mehr in die Nationalmuseen der ausgrabenden Laender gelangten, sondern im Gastland verblieben. Seitdem verlaeszt kein Objekt mehr Griechenland:
"All that the western nations are now allowed to gain by work in the East is knowledge. We have reached the scientific stage of discovery. And since knowledge has thus been put in the place of actual spoil, it is natural that excavation has been conducted in a more orderly and scientific way, find spots and circumstances of finding being recorded with great exactness. 19"

Information und Aufzeichnung treten an die Stelle der aaesthetischen Materialitaet der Objekte. Damit wurde 1875 der Schritt zur Archaeologie als Datenspeicherung vollzogen, wie sie der Computer heute digital optimiert. Das Vorspiel zum oesterreichischen Unternehmen der Ausgrabung von Ephesos seit 1895 (Otto Benndorf und das Oesterreichische Archaeologische Institut) war die Entscheidung der Wiener Akademie, in Kooperation mit dem Berliner Corpus Inscriptionum Graecarum die Inschriften von Kleinasien zu verzeichnen. Der Kunstarchaeologie vorgeschaltet war damit die Informationswissenschaft.

Vergangenheit konfrontieren heiszt, immer schon sich in Repraesentation zu verstricken, und damit in Sprache vergangen zu sein. Ursprung, Anfang Herrschaft und Archiv: alle archŽ wird immer schon als logos gedacht, als Befehlssprache - Programmieren. Die Alternative heiszt Informatik statt Geschichte; das "19. Jahrhundert" (als Epochenbegriff selbst eine narrative Inszenierung von Informationsraeumen) hat sie unter dem Namen Corpus Inscriptionm Latinarum gekannt. So spricht Theodor Mommsen in seiner "Denkschrift Ÿber den Plan des C.I.L.", verfaszt 1847 in Italien fŸr die Preuszische Akademie der Wissenschaften in Berlin, Klartext:

"Zweck des C.I.L. ist, die saemmtlichen Inschriften in eine Sammlung zu vereinigen, sie in bequemer Ordnung zusammenzustellen, dieselben nach Ausscheiden der falschen Steine in einem moeglichst aus den letzten zugaenglichen Quellen genommenen Text mit Angabe erheblicher varietas lectionis kritisch genau wiederzugeben und durch genaue Indices den gebrauch derselben zu erleichtern. Ein Kommentar ist wuenschenswerth, nicht aber nothwendig. 20"

Es ist also moeglich, Vergangenheit anhand es C.I.L. effektiv zu mobilisieren, ohne auf Narration zu verfallen. Tatsaechlich ist die Epigraphie das, was zwischen Geschichte und Archaeologie steht, vermittelnd und sich dazwischen schiebend, ganz nahe an der historischen Hilfswissenschaft der Diplomatik und der Palaeographie. Mommsen fordert vom Bearbeiter nach Moeglichkeit die kritische Autopsie des Befunds:

"<...> weil er sonst einen der Hauptvorzuege, den die Epigraphik vor der andern Literatur voraus hat, die unzweifelhafte, unanfechtbare Sicherheit des Textes, muthwillig aufopfern wuerde. 21"

Zudem fordert Mommsen die "gleichmaeszige Behandlung" der ganzen Sammlung: eine Grundbedingung aller Informatik (das Standardisierungsprogramm der Vergangenheit heiszt Geschichte). Und auch das Reale aller Informatik wird deutlich, jenes Interesse, aus der sie ihre Autoritaet zieht: "Sammeln, sichten, kontroliren 22" , das ist der wissenschaftliche Wille zur Wahrheit identisch mit dem Willen zur Kontrolle des Wissens (besonders auch gegenueber nicht-institutionalisierten Agenten der Wissenschaft, den Amateuren und dilettanti).

Ephesos selbst - der Ort, der Name, ist waste land; begraben war Ephesos unter Kuestenschlamm:

"When, therefore, in 1862 E. Falkener tried to reconstruct the ancient city, where years before he had spent a fortnight, it could only be a fantastic picture. Ernst Curtius also failed in his attempt to connect the history of the city with the localities, through insufficient evidence. Only the Temple of Artemis had been identified by Wood's excavations." 23

Das war 1869, als der Architekt und Ingenieur J. T. Wood im Auftrag des British Museum den Tempel identifiziert und teilweise freigelegt hatte, um seine Kunstwerke fŸr das Londoner British Museum zu bergen - columnae caelatae, figurierte Saeulenbasen aus der Zeit vor und nach dem Brand:

"But the effort of raising these huge pieces of sculpture from such a depth led to an utter disregard of the plan of the temple as a whole, a problem which was never correctly solved."24

Trophaeenjagd ist blind fuer Strukturen.

"Since then this site <...> has remained a desolate waste. A recent visitor expressed himself thus: `<...> Better to have left it covered than create such damage.'" 25

Archaeologie auf Seiten der Kunst ist destruktiv:

"By the term archaeology is meant the archaeology of art; the products of civilization in so far as they express no artistic character will only be mentioned incidentally. Thus Epigraphy has been excluded, nor are coins and germs included <...>." 26

Kunst als Monument lenkt ab von Information als Dokument. Auf Seiten der Information aber steht die Datenverarbeitung; jenseits der historischen Imagination haelt sich machine reasoning an das Vorgefundene.27 Diese Archaeologie ist keine antike Kunstgeschichte mehr, sondern science, eine exakte Wissenschaft, mathesis:

"Archaeology, relieved of the passion for objects (from antiquities and works of art to museum pieces) needs to seek, record, consult, process, reconstruct the truncated and distorted information <...>."28

Die Praesenz der Vergangenheit (als Archiv, als Ruine) ist diskontinuierlich, also diskret; jede historische Erzaehlung verfehlt also in ihrer Suggestion von Geschlossenheit die archaeologische Lage. Demgegenueber definiert der informatische Blick den Gegenstand nicht mehr kunstaesthetisch, sondern modular:

"1. Objekte (und deren Beschreibungen) sind prinzipiell als Komplexe (bzw. Mengen) zu begreifen, die sich (archaeo-logisch) in einzelne Module bzw. wiederum Submodule (d. h. in Untermengen) unterteilen lassen, und
2. die wissenschaftliche Bedeutung ebendieser Module bzw. Submodule haengt ganz wesentlich vom Kontext ab. <...>

In general a context contains a set of (computer readable and therefore retrievable) `descriptors' and of (non-machine-readable and therefore non-retrievable) commentaries." 29
Eine mithin synchrone, nicht mehr temporalisierte Operation, die den Unterschied von (individuellem, irreversiblem) Human- und (standardisiertem, reersiblem) Maschinengedaechtnis definiert; archaeologische Daten sind nicht Erinnerung, sondern radikale Gegenwart: "Data is generally stored in files, which are defined as organised collections of data." 30
Archaeologie als "Gedaechtnis produzierende Maschinerie" ist die Verabschiedung des emphatischen Geschichtsbegriff der historische Semantik, und ihr Ersatz durch ein semiotisches Verfahren (kybernetisch).

Was Benndorf und Humann fanden, war unter anderem das antike Gebaeude einer Bibliothek "of several storeys, in which niches in the walls show where the bookcases had been" 31 - Archivologie. Es gibt gar keine Erinnerung sui generis; there is no memory, nur Zuweisungen, die Aktivierung eines Depots, das erst die Klassifizierung zum Speicher erklaert.

"<...> fuer manche Zwecke ist die temporale Lokalisierung wichtig - und sei es nur zur Assoziierung eines Kontextes, der dann Ÿber Ausschlu§wirkungen zur Spezifikation von Erinnerungen verhilft. Schon diese Ueberlegung macht deutlich, wie falsch es waere, das immer nur aktuell fungierende Gedaechtnis als Zugriff auf vergangene, aber `gespeicherte' Daten zu interpretieren. Es ist nichts anderes als ein jeweils aktuelles cross-checking des Zustandes des Systems. Und Zeit ist im gedaechtnismaeszigen Sinne nichts anderes als ein Konstrukt zur Ueberpruefung von Redundanzen." 32

Archaeologische Artefakte werden als Funktion einer Semiose zu historischen Dokumenten -

"<...> a database which, for the most part, has undergone a change of state by virtue of its very entry into the domain of the discipline. From in situ and unknown, to removed and researched, before it has any impact on knowledge, the evidence has largely lost its original integrity. Its meaning rests only in the information attached to it in the form of associated records." 33

Der Akt der Registrierung, der Verzeichnung und Kontextualisierung steht einerseits in einem parergonalen Verhaeltnis zum Objekt, dem Semiophor (Krzysztof Pomian). David Crowther unterscheidet zwei Gruppen von artifacts attributes: intrinsische (Material, Dekoration) und relative (Kontext, Geschichte, Funktion). Darueber hinaus kommt das materiale Defizit der Semiotik ins Spiel, die Materialitaet des Zeichentraeâgers:

"This change of state is more than just conceptual, it is physical. Material once in a state of equilibrium with its burial environment, be it waterlogged wood or copper alloy from a dry site, will begin to deteriorate unless elaborate steps are taken to secure its welfare. Such a resourece is therefore in constant jeopardy and requires long-term care and management to minimize its inevitable devaluation and decay. It is a measure of the direct social relevance of archaeology that the repositories for its raw material, semi-digested or otherwise, should be public institutions whose principle functions are the provision of a cultural service." 34

References to Zwischen Monument und Dokument


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