Die verrückten Meister

Felix Riedel über Heilungsbegriffe in der Ethnologie

In der Fachgeschichte der Ethnologie finden sich vernichtende Urteile über traditionelle Heilpraktiken: wie im frühmodernen Europa fehlt ein Bewusstsein über Ursachen, die Therapien sind häufig verstümmelnde Kurpfuscherei. So beschrieb der Arzt und Ethnologe Ernst Haaf1 von den Kusase aus Nordghana Behandlungen mit Pflanzensäften, die eitrige Verätzungen verursachten. Überregional beobachten Ethnologen heute das Essen von Seife, um den Verdauungstrakt zu »reinigen« und das Verabreichen von Mischungen aus teilweise hochgiftigen oder hochpotenten Chemikalien, zerriebenen Antibiotika und Bestandteilen seltener Tiere. Und stets sind die traditionellen Therapien teurer als Krankenhäuser, die dann erst in Spätstadien aufgesucht werden. Hexereivorstellungen dienen als Plombe für die Wirkungslosigkeit traditioneller spiritistischer Therapien. Gehen die Behandlungen schief, war entweder der störrische Kranke selbst ein Hexer oder ein Opfer von Hexerei, wie Eric deRosny aus Kamerun im Einvernehmen mit anderen Quellen berichtet.

Lucien Lévy-Bruhl2 versuchte in den 1920ern das Verhältnis von Persistenz (Zählebigkeit) und Nichtwirksamkeit einer reifen Kritik zu öffnen: Weil in traditionellen Gesellschaften nicht empirische Ursachen, sondern mystische Ursachen für relevant gehalten werden, zählt die mentale Assoziation, nicht der logische Schluss aus sichtbaren Effekten. Daher wurde etwa in einer spezifischen Gesellschaft ein Ertrinkender zurück ins Wasser gestoßen, weil man ihn in dem Moment für »gestorben« erklärt, in dem er mit dem Tod assoziiert und identifiziert wird. Dieser Wahrnehmungsmodus sei mit dem logisch-empirischen Verfahren nicht kompatibel – und gerade deshalb kein Zeichen minderer Intelligenz, sondern einer anderen Denkform. Die Assoziationen haben schlicht keine Verbindung zur empirischen Realität, sie schaffen ihre eigene. Der Sprung zu einer anderen Denkform war ihm nur durch Fremdkontakt erklärbar – konkrete Modelle von Aufklärungsprozessen entwarf er nicht. Medizingeschichtliche Forschung erinnert daran, dass Biomedizin erst mit der Entdeckung der Bakteriologie eine signifikante Überlegenheit über die traditionellen Kräuterdoktoren und Geistheiler herstellte. Von Seife, Chloroform, wenigen Impfungen und einfachen Operationen abgesehen, war die westliche Heilkunde um 1900 noch machtlos gegenüber den Bedingungen im »white mans grave«, wie der Medizinhistoriker Adam Mohr3 belegt. Auch danach verliehen Missionskrankenhäuser und das als »miracle drug« beworbene Penicillin der Biomedizin eine religiöse Aura. Und bis heute tritt im Westen Biomedizin mit spiritistischen Praktiken überlagert auf, so dass von einer erfolgreichen Aufklärung nicht gesprochen werden kann. In der Peripherie wird der Überlegenheitsanspruch der Biomedizin durch ihre elitäre Verteilung zusätzlich sabotiert. Ungeachtet der Wiedereinführung einer freiwilligen, subventionierten Krankenkasse fallen in einem ghanaischen Krankenhaus zusätzliche Kosten für Pflege, Verpflegung und nicht gedeckte Behandlungen an. Durch den brain drain kommen in Ghana auf einen Arzt 10,000 Patienten, und auf 18 landesweit tätige Psychiater entfallen 2,5 Millionen Menschen mit psychischen Erkrankungen.4 Unter diesen Bedingungen ist ein autoritäres, mitunter zynisches Verhältnis von Ärzten zu Patienten keine kulturelle Wahl, sondern Resultat ökonomischer Zwänge. Dennoch können heute über 85% der Erkrankungen mit einem kleinen Set von einfachen chirurgischen oder pharmazeutischen Verrichtungen geheilt werden. In seiner Studie über Medizinkultur in Nordghana zeigte Bernhard Bierlich5, wie vor allem Frauen die Krankenhäuser aufsuchen, um billige und wirksame Medizin für ihre Kinder zu kaufen, während ältere Männer auf ihrer geheimen Ritualmedizin beharren.

Kurioserweise aber erhielten die traditionellen Praktiken gerade dann Auftrieb, als die Biomedizin mit den Leprakliniken, der Ausrottung der Pocken und der Zurückdrängung anderer Seuchen ihre höchsten Erfolge feierte. Medizinisch unwirksame oder schädliche traditionelle Praktiken wurden von Ethnonationalisten als indigene Psychotherapie umgedeutet. Das hatte Erfolg, weil Psychotherapie aus Kostengründen im Trikont kaum bekannt ist und eine tiefere Prüfung der verglichenen Verfahren ausblieb. In der Ethnologie, wo Psychoanalyse heute wirksam eliminiert wurde, griff man diese Strategie auf und pries die vermeintlich »psychoanalytischen« Methoden der Orakelpriester. Weil im Orakel ein Frage-Antwort-Spiel stattfindet, sei das schon eine »Gesprächstherapie«. Die Identifizierung von »Spirituellem« mit Psyche besorgte die Gleichsetzung von Geistheilung mit Psychosomatik. Von den biomedizinischen Ursachen konnte fortan ebenso abgesehen werden wie von Differenzierungen psychiatrischer Symptome. Anstatt also die Diagnose und nötige Therapieverfahren zu prüfen, beschränkten sich Ethnologen darauf, die Rituale der »Heiler« zu dokumentieren und den Ausgang immer wieder als »Heilung« zu verkaufen. Viele suchten wie Paul Stoller die Initiation ins Heilerwesen und vermarkteten Berichte über angeblich »Unerklärliches«. Biologische Ursachen, Leiden und Tod gerieten gerade in der Geistbesessenheitsforschung – mit vielen Ausnahmen qualifizierter Studien etwa zur HIV-Epidemie – immer mehr aus dem Blick. Die Rosskuren bei den Klienten einer Forschung zu tolerieren, bedurfte einer pathologischen Erkaltung gegen die Erkrankten, denen man ein grundsätzliches Anderssein unterstellte. Ihnen könne »westliche« Medizin nicht helfen. Der Zynismus solcher Behauptungen wird an den überlaufenen Psychiatrien deutlich: Seit ihrer Gründung im Jahr 1908 ist die Psychiatrie in Accra mehr als doppelt überbelegt, trotz aller Erweiterungen. »Mad people« prägen Ghanas Straßenbild: Sie sind an der schmutzverkrusteten braunen Kleidung erkennbar, warten an Straßenkreuzungen und Kreiseln auf Almosen. Propheten versprechen, ihre bösen Geister auszutreiben, sie werden mitunter angekettet oder misshandelt. Auch wenn man im Allgemeinen in der ghanaischen Gesellschaft integrativer mit ihren Kranken, Blinden und Taubstummen umgeht, als etwa Deutschland, so besteht doch ein objektiver Mangel an Psychiatrien. Das sublime Ressentiment gegen Psychiatrien in der Geisteswissenschaft förderte das Bedürfnis nach einem indigenen »Ersatz«. Fortan wurde aus Trance ein therapeutisches »Ausagieren« und psychisch Kranke wurden »geheilte« Geistmedien. Auch wenn exzeptionelle Individuen erstaunliche und hochinteressante Biographien aufweisen und die pauschale Verurteilung der traditionellen Medien durch Christen als »Hexenmeister« vermieden werden sollte, überwiegen negative Aspekte. Viele Medien und Propheten verschärfen Symptome durch Autosuggestion mystischer Krankheiten (Nocebo), traumatisieren Gesunde durch Hexereianklagen, ihnen selbst droht ritueller Alkoholismus und Zerrüttung durch Drogen.

Eine weitere Rationalisierung der traditionellen Therapien war die Kräuterheilkunde. Ihr wird oft unterstellt, sie sei Resultat serieller Tests an kranken Menschen, bis wirklich wirksame Kräuter herausselektiert worden seien. Trotz aller »Biopiraterie« blieben aber die erhofften hochpotenten Mittel aus dem Regenwald aus. Die reale Erfahrung in Europa war, dass Pflanzen nach der antiken, von Paracelsus und später Rudolf Steiner wiederbelebten Signaturenlehre verwendet wurden: eine gelbe Blüte heile Gelbsucht, eine hodenförmige Knolle mache potent. Wie sieht es in Ghana aus? In einem Magazin des offiziellen ghanaischen Heilerverbandes behaupten alle vorgestellten Heiler, dass sie Tuberkulose, HIV und andere ernsthafte Erkrankungen mit ihren Kräutern heilen könnten. Ihr Wissen stamme aus Träumen, in denen verstorbene Ahnen ihnen Kräuter »gezeigt« hätten. Nicht die Bestandteile der Kräuter gelten als wirksam, sondern ihre spirituelle Substanz. Daher werden Kräuter in Nordghana vor der Verwendung zu Asche verbrannt.

Die überhistorische und überregionale Eindeutigkeit des Materials riete einer fachgeschichtlich gebildeten Ethnologie eigentlich grundsätzliche Skepsis über die Möglichkeiten traditioneller Heilpraxis an. Das Gegenteil ist der Fall. Von Evans-Pritchard über Victor Turner, Claude Leví-Strauss, Jeanne Favret-Saada bis hin zu aktuellen Studien erhielt eine mit Euphemismen gesättigte Sprache Einzug. Schamanen, Witch-Doctors, Geistmedien und Propheten »erkennen« die sozialen Konflikte von Kranken, behandeln sie in geschickten rituellen »Gesprächsherapien«, in denen Krankheit »konkretisiert« und dadurch »begreifbar« gemacht wird. Hexereianklagen bearbeiten angebliche »unbewusste Konflikte«, zwingen Angeklagte dazu, ihr nichtkonformes Verhalten zu ändern. Das erzeuge die Gesundung von Patient und Kollektiv. Solcher Kulturalismus mit seinem Protest gegen die »imperialistischen Wirklichkeitsbegriffe« geht traditionell mit dem Positivismus bruchlos einher. Das Negative, Unheimliche, Verstörende an Therapien wird zensiert, bis am Ende – von Rationalität durchleuchtete – Funktionen ihrer Umwelt die Knochen werfen und in Zungen reden und nicht der Herr Kojo, der wirklich daran glaubt, dass die Mutter dem eigenen Sohn eine Epilepsie angehext hat. Erst unter dem Einfluss des Kolonialismus seien in vormals harmonischen Gemeinschaften Individualismus und soziale Unterschiede entstanden, die dann für Neid und somit Hexereianklagen sorgen würden. Derartiger Pseudo-Materialismus adelt den »Seufzer der bedrängten Kreatur« zur Philosophie, die dem »Monopolisierungsanspruch der Moderne« trotzt.

Die Rationalisierungen und Euphemismen bedienen ein generelles Interesse an Weichzeichnungen auf dem akademischen Markt. Von Unterdrückung und ihren körperlich und geistig verstümmelnden Auswirkungen zu sprechen gilt als unfein. Die Unterdrückten seien keine machtlosen Opfer – sie haben vielmehr »agency«, mit der sie ihren Zuständen »Bedeutung« geben. Die passiv-aggressive Menschenfeindlichkeit dieser paternalistischen Schönfärberei ist offensichtlich. Hinter der Maske einer berechtigten Kritik bürgerlicher, teleologischer Fortschrittsideologie verbirgt sich eine kulturalistische Ideologie, die Afrikaner infantilisiert. Nach den auf sie angepassten Maßstäben leiden sie nicht mehr unter objektiven Rückständigkeit ihrer Produktionsbedingungen, sondern sie sind »multipel modern«. Für die »ganz Anderen« sind Kurpfuscherei und pathische Projektionen gerade richtig. Das Othering bleibt Besitzstandswahrung: Psychotherapie und Biomedizin ist in dieser Logik nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein »kulturelles« Vorrecht der Weißen.
 

[1] Haaf, Ernst 1967: Die Kusase. Eine medizin-ethnologische Studie über einen Stamm in Nordghana. Stuttgart: Fischer.
[2] Lévy-Bruhl, Lucien 1966 (1927): Die geistige Welt der Primitiven. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
[3] Mohr, Adam 2009: Missionary Medicine and Akan Therapeutics. In: Journal of Religion in Africa 39.
[4] Roberts, Mark/Mogan, Caroline/Asare, Joseph 2014: An overview of Ghana’s mental health system. Int. J. of Mental Health Systems 8,16.
[5] Bierlich, Bernhard 2007: The Problem of Money. African Agency & Western Medicine in Northern Ghana. Oxford: Berghahn.

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Traditionelle Medizin (Bild: Felix Riedel)

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