Ein Baustellengespräch

Eine Groll-Geschichte von Erwin Riess.

Groll und der Dozent standen in Linz-Urfahr vor einer Häuserzeile an der Donau. Behutsam restaurierte Häuser, dezent gefärbelt, mit Proportionen ausgestattet, die dem ungestümen Fluß gegenüber Respekt ausdrücken, aber auch eine gewisse Trotzigkeit zeigen. Wir lassen uns von dir, Fluß, nicht vertreiben, sagen die Häuser, wir sind aber andererseits auch froh, daß es dich gibt, denn du verleihst unserer harten Existenz im rauhen Norden der Stadt Weltläufigkeit. So leben die beiden, der Fluß und die alten Häuser, über viele Jahrhunderte wenn schon nicht in Eintracht, so doch in gegenseitiger Akzeptanz. Und der Blick auf dieses Ensemble zählt zum Schönsten, was Linz zu bieten hat. Der Umstand, daß im Lauf der letzten Jahrzehnte in die Kirchengasse alternative Medien- und Kulturwerkstätten eingezogen waren und abends weltstädtische Musik über die Donau schallte, verstärkte die Anziehungskraft dieses Stadtteils.
Groll hatte den Dozenten mitgenommen, weil er ihm einerseits dieses städtebauliche Juwel zeigen wollte, andererseits aber auch dessen Auslöschung. Die war nämlich längst im Gange. Das stählerne Ars Electronica Hauptquartier bekam nämlich einen Zubau, der die Frontlinie der Kirchengasse ein für allemal von der Donau abschnitt und das Ensemble unwiederbringlich zerstörte. In Linz beginne das europäische Jahr mit einer architektonischen und sozialen Vernichtung. Das sei noch bei allen Kulturhauptstädten so gewesen, in Graz sei es besonders schlimm, im irischen Cork etwas besser und im rumänischen Sibiu noch schlimmer gewesen, sagte Groll. Eine Stadt, die sich zur Kulturhauptstadt machen muß, drücke damit aus, daß sie sich selbst als provinziell und hinterwäldlerisch empfinde und bereit sei, alles, auch die abstoßendste Barbarei in Szene zu setzen, um sich von diesem Verdikt freizuwaschen. In Mitteleuropa zähle es eben zum Wesen des Neuen, daß es sich fast gewalttätig gegen das allgegenwärtige Alte durchsetzen müsse, erwiderte der Dozent. In diesem Fall sei die Gewalt aber besonders abstoßend und die Auslöschung des Alten besonders beklagenswert ausgefallen. Groll warf ein, daß die Form des Neuen nicht losgelöst von dessen Inhalt zu sehen sei. In den Einrichtungen der Ars Electronica würden die gegenwärtigen und künftigen Marionetten der IT-Industrie auf ihre intellektuelles und ästhetisches Sklavendasein vorbereitet, in spielerischer Form natürlich, damit es nicht so auffalle und mit viel Subventionen von staatlichen Stellen, die nach wie vor glaubten, in Linz werde der Gebrauchswert der neuen Technologien verhandelt und nicht deren Tauschwert erprobt. Der Dozent ließ diese Auffassung seines Freundes gerade noch durchgehen. Sie war ihm zu überspitzt, aber er hatte das Mißvergnügen gehabt, in den letzten Jahren einige Veranstaltungen der Ars Electronica aus beruflichen Gründen besuchen zu müssen. Im Lichte des Gesehenen und Erlebten mußte er zugestehen, daß die übergroße Mehrzahl der vorgestellten Projekte entweder hanebüchen wie ein rassistischer Maturawitz waren oder aber auf eine reaktionäre Sicht der sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Gegenwart verwiesen. Es sei kein Wunder, daß den Wünschen der Computerindustrie nach Spielmöglichkeiten eiligst entsprochen werde, meinte der Dozent und lenkte das Gespräch auf ein weniger verfängliches Thema – die neue Regierung. Was Groll von dieser halte?
»Was soll ich von der neuen halten?« sagte Groll. »Ich habe die Einsetzung der alten noch nicht verdaut.«
Der Dozent lehnte sich an eine Absperrung. »Sie haben doch sicherlich die Querelen um die neue Regierung mitverfolgt!«
»Schon«, sagte Groll. »Aber wie Sie schon richtig sagten: Ich bin an Politik interessiert und nicht an medialer Nebelwerferei.«
»Das bringt uns der Sache schon näher«, meinte der Dozent und lehnte sich noch stärker an die Absperrung der Baustelle. »Haben Sie das neue Regierungsprogramm gelesen?«
Groll zog einen Zeitungsausschnitt aus dem Rollstuhlnetz und las: »‘Die Koalitionsparteien sehen den Sport als bedeutende Querschnittsmaterie der Gesellschaft und als Partner in der Gesundheitsprävention’* Für einen Querschnittgelähmten hat dieser Satz einen gewissen Charme.«
Der Dozent wandte sich ab, um sein Lachen zu verbergen. Es stimme zwar, daß das Regierungsprogramm viele verwaschene Passagen ent-halte, sagte er dann, aber vielleicht zeuge das ja auch nur von der Vor-sicht der handelnden Personen. Angesichts immer kürzer werdender tatsächlicher Regierungsperioden, unerwarteter Weltwirtschaftskrisen und Journalisten, die per Knopfdruck ganze Archive parat haben, wäre es ja geradezu dumm, konkrete Vorhaben zu nennen. Kanzler Gusenbauer sei auf diese Art seine Berufung los geworden. Zuerst habe die ÖVP ihm alles wegverhandelt, was für Sozialdemokraten wichtig gewesen sei und dann habe sie in den von ihr kontrollierten Medien das Trommelfeuer auf den wortbrüchigen Kanzler eröffnet. Die Strategie sei deshalb so erfolgreich gewesen, weil auch Teile der SPÖ sich dem Spiel anschlossen. Werner Faymann sei so gesehen nur ein Glücksritter auf der von der ÖVP losgetretenen und von der Kronen-Zeitung verbreiteten Welle. Gusenbauer hätte das früher sehen müssen, meinte der Dozent, aber soweit reichte sein Weitblick nicht. »In Ybbs an der Donau schätzt man das Nahe, nicht den Blick in die Ferne.«
»Wie in Linz«, sagte Groll. »Man verbaut die Donau.« Über die neue Regierung sei zwar noch einiges zu sagen, aber dazu bleibe ja noch Zeit. Ihm erscheine wichtig, auf eine bislang nicht beachtete Facette hinzuweisen. Der Regierung gehöre als Medienstaatssekretär der engste Mitarbeiter des neuen Kanzlers an. »Josef Ostermayer ist ein Verwandter einer der berühmtesten Persönlichkeiten der österreichischen Geschichte.«
Der Dozent lehnte sich wieder stärker an die Absperrung. »Sprechen Sie weiter!«
»Josef Grössing, ein achtjähriger Bub, einziges Kind einer sozialdemokratischen Eisenbahnerfamilie, zählt zu den Vorfahren Ostermayers. Der Bub wurde gemeinsam mit einem Kriegsversehrten 1927 im burgenländischen Schattendorf hinterrücks von den rechtsradikalen Frontkämpfern Pinter und den Brüdern Tscharmann erschossen. Die drei gaben das auch bei der Verhandlung im Juli 1927 in Wien zu, wurden aber dennoch freigesprochen. Daraufhin kam es zur spontanen Erhebung der Wiener Arbeiter, die, von Partei und Schutzbund im Stich gelassen, schließlich zu Aberdutzenden von der Wiener Polizei hingemetzelt wurden.«
»Der Justizpalastbrand«, sagte der Dozent.
»Sagen Sie lieber, das Juli-Massaker«, erwiderte Groll. »Ein Nachkomme des armen Grössing, dem in Floridsdorf seit kurzem eine unscheinbare Wiesenfläche gewidmet ist, gehört nun der Regierung an. »Wer wie ich an die langen Linien der Geschichte glaubt und einen langfristigen Fortschritt nicht ausschließen mag, könnte in diesem Umstand etwas Tröstliches sehen.«
Anstatt zu antworten, machte der Dozent einen Schritt zurück. Keine Sekunde zu spät, die Holzlatten krachten über der Baustelle zusammen.

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*) Die Presse, 26. 11. 2008, S. 31

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