Die iGesellschaft - Richard Sennett über das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit.

Viele Internet-Services beruhen auf der freiwilligen Preisgabe privater Informationen. Mit Plattformen wie Youtube oder Myspace wird der Ich-Stream zum Mainstream. Ob iGoogle oder iTunes: in der iGesellschaft ist das Herzeigen-Wollen oft stärker als die Angst vor dem Verlust der Privatsphäre.

Wie das Private die Öffentlichkeit durchdringt, hat der amerikanische Soziologe Richard Sennett bereits Mitte der 1970er Jahre in seinem Buch “The Fall of Public Man” beschrieben. In der deutschen Ausgabe lautet der Titel des renommierten Werks „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität.“ Richard Sennett zeichnet darin den Weg zur intimen Gesellschaft nach, in der das Private immer stärker das Öffentliche überlagert.

„Die Rhetorik der Politiker des 18. Jahrhunderts war eher unpersönlich, es kamen selten Ausdrücke wie ‚Ich glaube’ oder ‚Es ist meine starke Überzeugung’ vor“, erörtert Richard Sennett den historischen Wandel der Kommunikationskultur. Die Leidenschaft gehörte der Sache, dem “es” und nicht dem “ich”. Heute liege die Betonung mehr beim “Ich” als beim “es”.
Das habe in der Politik schreckliche Folgen, so der Professor an der „London School of Economics“.

Richard Sennett wurde im März dieses Jahres mit dem Hegel-Preis ausgezeichnet. Der Amerikaner mit Wohnsitz und Professur in London und New York gilt als einer der wichtigsten Gesellschaftswissenschafter der Gegenwart. Seine Bücher “Der flexible Mensch" oder "Die Kultur des Neuen Kapitalismus" sind Bestseller. In seinem frühen Werk über die „Tyrannei der Intimität" analysiert er die historische Entwicklung der Öffentlichkeit. Seine These: Öffentliches Handeln ist stets ein Handeln mit Masken. Wenn diese Masken fehlen, entstehe so etwas wie der “Terror der Intimität”. Das “sich selbst ausdrücken” ersetze den politischen Diskurs.

„Manchmal wenn ich mich durch diese Weblogs klicke, wo Menschen alle Aspekte ihres intimen Lebens online veröffentlichen, kommt es mir vor, als würden sie Müll in einen Abfalleimer, in dem Fall in ihren Computer, tippen“, meint Richard Sennett, der über die Gefahren dieser „Ideologie der Intimität“ bereits vor mehr als 30 Jahren schrieb, als das Internet in seiner heutigen Form noch nicht einmal gedacht wurde.

„Die Dinge, die einem wirklich wichtig sind, behandelt man mit mehr Achtsamkeit. Nicht so wie dieses endlose Berichten aller Details des alltäglichen Lebens. Es ist ein unermessliches Ödland an Geständnissen und Offenbarungen, das diese Blogs ausfüllen.“ Die private Geschwätzigkeit gefährdet das, was bereits Jürgen Habermas eine „kritische Öffentlichkeit“ nannte.

Für ihn sei es eine zweischneidige Erfahrung, dass sein Buch ein Phänomen benannt hat, das im Laufe der Zeit nur noch schlimmer geworden sei. „Es freut mich natürlich, dass mein Buch so prophetisch ist, aber meine Prognose macht mich auch sehr traurig.“ Was ihm besser gefalle sind Chat-Rooms, wo Leute sich gegenseitig Fragen stellen. „Von diesen gibt es natürlich nicht so viele, wie von jenen, wo man Fotos seines Hundes oder seiner Fußoperation online stellen kann.“

Richard Sennett ist kein Internetverweigerer. Im Gegenteil. Es selbst bezeichnet sich als technophil und kennt sogar die feinen Unterschiede zwischen „Myspace“ und „Facebook“. Der amerikanische Soziologe, der in den 1970er Jahren den Verfall des öffentlichen Lebens proklamierte, sieht in den neuen partizipativen Online-Tools sehr wohl auch neue Chancen. Seine Antwort auf die Frage, ob mit Social Software zur Selbstveröffentlichung nicht auch ein neues öffentliches Leben entsteht?

Richard Sennett: „Natürlich kann daraus ein neues öffentliches Leben entstehen. Es ist ja eine großartige Technologie! Doch meist verwenden wir sie auf eine sehr traditionelle Weise. Wir schaffen mit diesen elektronischen Möglichkeiten das, was ich als intime Gesellschaft beschrieben habe.“

Als wegweisendes Beispiel nennt er die Wikipedia-Community, die einerseits offenen Zugang zur Produktion der Inhalte gewähren und andrerseits Qualität garantieren will. Das zu bewerkstelligen, sei eine technische, aber auch eine soziale Herausforderung. „Wenn wir uns damit in der Praxis beschäftigen, entwickeln wir Formen eines neuen öffentlichen Lebens.“

Text: Ina Zwerger

Unter dem Titel „Die transparente Gesellschaft. Zwischen Offenheit und Kontrolle“ geht das Radiokolleg diese Woche der Frage nach, wie viel Offenheit und wie viel Geheimnis die Informationsgesellschaft braucht.
27. – 30.8., 9.05 Uhr

Hinweis:
Goodbye Privacy Symposium
http://www.aec.at/de/festival2007/program/content_event_projects.asp?iPa...

Sendung in Ö1 Radiokolleg:
http://oe1.orf.at/highlights/107662.html

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 27. August 2007 bis Donnerstag, 30. August 2007, 9:05 Uhr, Ö1 Live-Stream:
http://oe1.orf.at/konsole/live

Von 6.9. bis 7.9 diskutiert die Ars Electronica ein Update der Privatsphäre unter den neuen Bedingungen von Terrorismus und Web 2.0.

Ars Electronica Festival
http://www.aec.at/de/festival2007/program/content.asp